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											Dr. 
											Walter T. Rix: Tauroggen als Fanal - 
											die Entscheidung Yorks veränderte 
											Europa (Tauroggen 1812 – 2012)
											 
											
											 Einen 
											„glorreichen Sieg“ versprach 
											Napoleon am 22. Juni 1812 den 
											Soldaten der Grande Armée für den 
											Feldzug gegen Russland. Doch die 
											Russen wichen aus und nutzten die 
											Weite des Raumes. Napoleons 619.000 
											Soldaten, darunter 130.000 Deutsche, 
											wurden Opfer von überdehnten 
											Nachschublinien und extremen 
											Witterungsbedingungen. Dazu kamen 
											schon damals der Partisanenkampf und 
											die Taktik der Verbrannten Erde. 
											Zwar erreichte Napoleon am 14. 
											September 1812 Moskau, aber die 
											Stadt ging in Flammen auf. Zu diesem 
											Zeitpunkt hatte er bereits an die 60 
											% seiner Armee verloren. Der Rückzug 
											gestaltete sich zu einem chaotischen 
											Todesmarsch. Zusammenhalt und 
											Disziplin brachen völlig zusammen. 
											Von 619.000 Mann der Großen Armee 
											kehrten nicht mehr als 58.000 
											zurück. Westfalen hatte 27.000 
											Soldaten gestellt, nur 800 sahen die 
											Heimat wieder. 
											
											  
											
											Der Katastrophe entgingen nur zwei 
											Formationen: das 30.000 Mann 
											umfassende österreichische Hilfsheer 
											in Galizien unter Fürst Karl Philipp 
											zu Schwarzenberg, das die Südflanke 
											der Napoleonischen Armee decken 
											sollte. Im Norden war es das X. 
											Armeekorps unter dem französischen 
											Marschall Etienne Jacques Macdonald, 
											das das Baltikum besetzt hielt. Zu 
											diesem Korps gehörte die knapp 
											20.000 Mann zählende 27. preußische 
											Division. Unter dem Befehl des 
											Generalleutnants Johann David von 
											York marschierten die Preußen Ende 
											Juni 1812 auf Riga zu. Da sich nur 
											wenige russische Truppen im Baltikum 
											befanden, kam es hier zu keinen 
											nennenswerten Kampfhandlungen. 
											Während die Große Armee auf ihrem 
											Rückzug im Schnee erfror, bezogen 
											die Preußen ein bequemes 
											Winterquartier. 
											
											  
											
											York verstand sich als Soldat, war 
											aber alles andere als ein Ja-Sager. 
											Der Reichsfreiherr vom Stein, vor 
											Napoleon 1803 nach Prag geflohen und 
											von dort durch Alexander I. nach 
											Rußland gerufen, erkundigte sich 
											1812 in Preußen nach dem Charakter 
											bestimmter Offiziere, um deren 
											Eignung für seine Pläne 
											herauszufinden. Staatsminister 
											August Friedrich Graf von der Goltz 
											antwortete vertraulich: „Von York, 
											General-Leutnant, von mittlerem 
											Alter, unterrichtet, ehrgeizig, 
											unzufrieden, Frankreich hassend, 
											allgemein anerkannter, braver und 
											schnell überblickender, mehr 
											praktischer als theoretischer 
											Soldat, eines kühnen Entschlusses 
											leicht fähig, völlig unbemittelt“. 
											Eine knappe, aber wie die folgenden 
											Ereignisse zeigen sollten, äußerst 
											zutreffende Charakterisierung. Der 
											von den Russen „Marschall Vorwärts“ 
											genannte Gebhard Leberecht von 
											Blücher urteilte in der ihm eignen 
											Art noch knapper: „Der York ist ein 
											giftiger Kerl, er tut nichts als 
											räsonnieren, aber wenn es los geht, 
											so beißt er an wie keiner“. 
											
											  
											
											Macdonald hatte den Rückzug seines 
											Korps hinter die Memel befohlen und 
											bedrohte damit die Flanke des 
											russischen Vormarsches nach Westen. 
											Die Russen erkannten diese Gefahr 
											und streckten daher ihre Fühler zu 
											den Preußen in Richtung 
											Neutralitätsabkommen aus. Sie hatten 
											erkannt, daß eine politische Lösung 
											weitaus mehr Erfolg versprach als 
											ein Waffengang. York reagierte nicht 
											wie ein Soldat, sondern wie ein 
											geschmeidiger Diplomat. Das 
											entscheidende Treffen fand am 30. 
											Dezember 1812 in der Wassermühle von 
											Poscherun etwa drei Kilometer von 
											dem Landstädtchen Tauroggen (lit. 
											Taurage) entfernt statt. Bei diesem 
											Treffen waren die Preußen unter 
											sich: Die russische Seite vertrat 
											Generalmajor Hans Karl von Diebitsch, 
											der seine Besitzungen in Schlesien 
											hatte. Er war in Begleitung von 
											Oberstleutnant Carl von Clausewitz, 
											der aus Protest gegen die 
											unentschlossene Politik von 
											Friedrich Wilhelm III. in russische 
											Dienste getreten war, sowie von 
											Major Friedrich Graf zu 
											Dohna-Schlobitten. York wurde 
											sekundiert von seinem Stabschef 
											Oberst Friedrich von Röder und 
											seinem Adjudanten Major Anton von 
											Seydlitz. Zwar wußte York die 
											Sympathien der jungen Offiziere 
											hinter sich, aber er war sich auch 
											dessen bewußt, daß er mit seinem 
											Kopf spielte: „Ihr habt gut reden, 
											ihr jungen Leute, mir Alten aber 
											wackelt der Kopf auf den Schultern“, 
											bemerkte er zu einem Kurier kurz vor 
											Abschluß der Verhandlungen. 
											
											  
											
											Die Konvention ist 
											bezeichnenderweise in Deutsch 
											gehalten. Sie räumt dem preußischen 
											Korps ein bestimmtes Gebiet zwischen 
											Memel, Tilsit, Labiau und dem Haff 
											ein, in dem es mindestens zwei 
											Monate verharren kann. Sollten aber 
											König oder Zar dem Abkommen die 
											Zustimmung versagen, so sollte das 
											Korps trotz allem freien Abzug 
											erhalten. Die Konvention aber war 
											weit mehr als nur eine militärische 
											Vereinbarung, sie war das Fanal für 
											einen jetzt einsetzenden und ständig 
											wachsenden Widerstand gegen 
											Napoleon. In Bezug auf York war die 
											Entscheidung auch mehr als die 
											Insubordination oder Rebellion eines 
											Generals, sie war Hochverrat. Die 
											Kraft der Persönlichkeit Yorks 
											zeigte sich jedoch in einem 
											Schreiben an den König, wenn er zu 
											seiner Entscheidung erklärt: „Ich 
											schwöre Eurer Königlichen Majestät, 
											daß ich auf dem Sandhaufen ebenso 
											ruhig wie auf dem Schlachtfelde, auf 
											dem ich grau geworden bin, die Kugel 
											erwarten werde“. 
											
											Im Februar 1813 erklärte Friedrich 
											Wilhelm III. York für abgesetzt. Die 
											Entscheidung wurde York nicht durch 
											den König direkt mitgeteilt, sondern 
											erreichte ihn in herabsetzender 
											Weise lediglich durch die 
											Tageszeitung. Mit großem 
											Selbstbewußtsein hielt York diesem 
											Beschluß am 27. Februar 1813 
											entgegen, daß es bisher unüblich 
											gewesen sei, den Adressaten einer 
											königlichen Entscheidung durch die 
											Tagespresse zu informieren. Nur 
											einen Tag später erhält die 
											angestrebte Allianz, wiederum ohne 
											die Zustimmung des Königs, durch das 
											Bündnis von Kalisch feste 
											Vertragsform. Im März lenkte der 
											König schließlich ein und rief mit 
											den Proklamationen „An mein Volk“ 
											und „An mein Heer“ sogar selbst zum 
											Freiheitskampf gegen die 
											französische Fremdherrschaft auf. 
											Damit erhielt die 
											staatsstreichähnliche Insurrektion 
											ihre königliche Legitimation. 
											
											  
											
											Die Entscheidung Yorks wirkte wie 
											eine Katharsis. Sie war nur ein 
											einzelner Akt, aber die politische 
											Lage bedurfte dieses Aktes, um mit 
											einem sich laufend steigernden Tempo 
											in Bewegung zu kommen. Bereits 1791 
											ließ Wilhelm von Humboldts 
											Jugendschrift Ideen über 
											Staatsverfassung erkennen, daß 
											es in Preußen gärte. Nach 1812 
											kommen die stecken gebliebenen 
											Reformen nunmehr zum Durchbruch, 
											nicht ohne daß sich der Geist der 
											Französischen Revolution in vielen 
											Bereichen niederschlägt, von der 
											Reorganisation des Heeres über das 
											Bildungswesen bis hin zum Aufbau der 
											Verwaltung. Mit Tauroggen erwachten 
											die Deutschen und machten sich auf 
											den dornenreichen Weg zur Nation. 
											Aber Tauroggen mit seiner 
											Entscheidung gegen den König 
											enthielt auch bereits den Keim der 
											Auseinandersetzungen um die 
											Verfassung, die sich fast durch das 
											gesamte 19. Jahrhundert ziehen.  
											Während jedoch andere Staaten 
											Kolonialreiche aufbauten, richtet 
											Preußen seine Energien nach innen 
											und entwickelt den modernsten Staat 
											Europas. 
											
											  
											
											Tauroggen ist zum Mythos geworden. 
											Nicht wenige in Deutschland träumten 
											und träumen auch heute angesichts 
											der extremen Westbindung vom Geist 
											von Tauroggen, vor allem, weil 
											dieser Geist auch mit den 
											deutsch-sowjetischen Vereinbarungen 
											1922 in Rapallo wieder zum Vorschein 
											zu kommen schien. Ein solcher Traum, 
											ist nicht ohne Berechtigung, denn 
											Deutschland ist ein europäischer 
											Mittelstaat, der auch nach Osten 
											blicken muß. An der Einweihung des 
											Denkmals von Tauroggen 1912 nahm als 
											Vertreter von Nikolaus II. auch 
											dessen Generaladjudant Paul Georg 
											Edler von/Pawl Karlowitsch 
											Rennenkampf teil. Nur zwei Jahre 
											später wurden aus den ehemaligen 
											Waffengefährten Feinde: An der 
											Spitze einer russischen Arme fiel 
											Rennenkampf in Ostpreußen ein. 
											Eindringlich lassen die Folgen, 
											Tannenberg und Revolution, erkennen, 
											daß der Geist von Tauroggen die 
											bessere Maxime für politisches 
											Handeln gewesen wäre. Doch in der 
											Tiefenstruktur des historischen 
											Geschehens finden sich bisweilen 
											bedeutungsvolle Ingredienzien. Nach 
											1945 sollte im sowjetischen Teil 
											Ostpreußens nichts mehr an die 
											deutsche Vergangenheit erinnern. 
											Aber die alte „York Straße“ in 
											Königsberg wurde zur „uliza 1812 
											Goda“ („Straße des Jahres 1812“). 
											Die Jahre eines deutsch-russischen 
											Verständnisses waren glückliche 
											Jahre. Aber es gilt auch, was der 
											preußische Reformer Theodor von 
											Schön 1812 ahnungsvoll zu Ernst 
											Moritz Arndt, der ebenfalls in 
											russische Dienste getreten war, 
											sagte: „Man muß sich mit dem 
											russischen Bären gutstellen, aber 
											man muß aufpassen, daß man nicht im 
											Bauch der russischen Bären landet“.
											 
											
											  
											
											
											Walter T. Rix   |